2022/2023
Frühlings Erwachen 13 +
nach Frank Wedekind
von Thomas Birkmeir
Stückinfo
Ort: | Renaissancetheater, Neubaugasse 36, 1070 Wien |
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Zeitraum: | 23. März 2023 - 26. April 2023 |
Premiere: | 24. März 2023 |
Dauer: | 02:30 inkl. Pause |
Regie: | Thomas Birkmeir |
»Die Poesie des Pessimismus ist die Lebensfreude.«
Frank Wedekind
In seiner 1891 erschienenen, von eigenen Erfahrungen und Freundschaften geprägten »Kindertragödie« erzählt Frank Wedekind von einer der tiefgreifendsten Veränderungen eines jeden Lebens – dem Erwachsenwerden.
Denn was wir mit zunehmendem Alter rückblickend gerne als schönste Zeit unseres Lebens verklären, ist mit Sicherheit auch eine der schwierigsten und verletzlichsten Phasen, die jeder Mensch durchlaufen muss. In besonderem Maße trifft das auch auf die jugendlichen Hauptfiguren Melchior, Moritz und Wendla zu, die sich nicht nur mit ihrer aufkeimenden Sexualität und der damit einhergehenden Verunsicherung konfrontiert sehen, sondern nicht zuletzt auch mit dem Unverständnis ihrer Eltern und dem sich stetig steigernden Leistungsdruck zu kämpfen haben; einem Druck, dem nicht alle standhalten können. Mit ihren Ängsten und Nöten alleine gelassen, dreht sich die Spirale aus überwältigenden Gefühlen und unerreichbaren Idealvorstellungen immer schneller – bis es für den sensiblen Moritz nur noch einen Ausweg zu geben scheint…
Sich in die Gruppe einordnen und dazugehören, aus der Masse hervorstechen und dabei auch noch »das Rennen nicht bereits am Start verlieren«: Die Tatsache, dass immer mehr Jugendliche an den oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Erwartungen zerbrechen, zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass Wedekinds provokative Bestandsaufnahme der Wilhelminischen Gesellschaft auch im 21. Jahrhundert nicht ad acta gelegt werden kann. Autor und Regisseur Thomas Birkmeir befragt diesen Klassiker der Theaterliteratur, der aus dem Kanon der Klassenlektüre nicht wegzudenken ist, mit einem heutigen Blick.
Aufführungsrechte: Theater der Jugend, Wien
Besetzung
Wendla | Victoria Hauer |
Frau Bergmann / Frau Gabor | Simone Kabst |
Moritz | Ludwig Wendelin Weißenberger |
Melchior | Curdin Caviezel |
Daria | Shirina Granmayeh |
Thea | Claudia Waldherr |
Hänschen | Robin Jentys |
Ilse / Otto | Jakob Pinter |
Robert | Haris Ademovic |
Der vermummte Herr | Claudia Waldherr |
In weiteren Rollen | Ensemble |
Regie | Thomas Birkmeir |
Bühnenbild | Andreas Lungenschmid |
Kostümbild | Irmgard Kersting |
Licht | Lukas Kaltenbäck |
Dramaturgie | Gerald Maria Bauer |
Assistenz und Inspizienz | Viktoria Klampfl |
Hospitanz | Natalie Ogris |
Kritiken
Salzburger Nachrichten, Kleine Zeitung, vol.at (APA) – 25.03.2023Geglücktes "Frühlings Erwachen"-Update im Theater der Jugend
Was haben Smartphones, Genderfluidität und das F-Wort in einem gut 130 Jahre alten Stück zu suchen? Regisseur Thomas Birkmeir hat Frank Wedekinds 1891 erschienenes Drama "Frühlings Erwachen" für das Theater der Jugend auf seinen gegenwärtigen Gehalt befragt und zeigt, dass die Nöte der Pubertät auch unter anderen Vorzeichen immer noch dieselben sind. Eine geglückte wie beklemmende Überschreibung für die Generation Z, die im Wiener Renaissancetheater am Freitag Premiere hatte.
Das Geschehen spielt sich im Wesentlichen auf einem gekippten Boden ab, der von unten beleuchtet wird und durch variable Farbgebungen unterschiedliche Lichtstimmungen erzeugt. Die räumliche Umgebung wird lediglich durch Licht-Schatten-Projektionen auf einen dunklen Hintergrund skizziert. Schnell wird klar: Es geht nicht um poppige Effekte oder multimediales Brimborium. Im Fokus stehen die Figuren, ihr Umgang miteinander und mit ihrer Suche nach Anerkennung, Orientierung und Erlösung von Leistungsdruck und Weltschmerz.
Auch wenn Birkmeir sehr freizügig mit Wedekinds Text umgeht, hält er sich doch recht strikt an die eigentliche Geschichte und ihren tragischen Verlauf. Die Teenager Moritz (Ludwig Wendelin Weißenberger), Melchior (Curdin Caviezel) und Wendla (Victoria Hauer) kämpfen mit ihrem aufkeimenden sexuellen Begehren und der damit einhergehenden Verunsicherung, schulischen Versagensängsten, dem Gruppendruck unter Gleichaltrigen, die sich mit einer Arschloch-Attitüde gegen ihre eigene Fragilität panzern, und verständnislosen bis gefühlskalten Eltern. "Warum muss jede Generation immer denselben Scheiß durchmachen?", fragt Melchior einmal.
Dass die Nöte der Jugend in der Wilhelminischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts etwas anders grundiert waren als sie es heutzutage sind, versteht sich von selbst. Also streitet Wendla zu Beginn mit ihrer Mutter nicht mehr über die Länge ihres Kleides, sondern über ein Tattoo, das sie sich stechen lassen will. Rigide Moralvorstellungen und vorgefertigte Lebensläufe sind via Smartphone stets verfügbaren Pornos und einem "Overkill an Wahlmöglichkeiten" gewichen, angesichts derer man am liebsten "verrecken" möchte. Mitschüler werden durch das Versenden intimer Aufnahmen über Social Media beschämt, leistungssteigernde Drogen sollen zum schulischen Erfolg verhelfen.
"Ich zu sein und 15 ist das Schlimmste, was ich bisher erlebt habe", sagt Moritz einmal. Er zerbricht an den scheinbar nicht erfüllbaren Anforderungen des Lebens und begeht Selbstmord. Und auch für Wendla geht es nicht gut aus. Sie stirbt an Komplikationen einer ungewollten Schwangerschaft - noch bevor sie dem Druck ihrer Mutter nachgeben kann abzutreiben. Lediglich Melchior, trotz nihilistischer Grundhaltung mit einer gewissen Robustheit ausgestattet, entscheidet sich zum (...) am Grab seines Freundes, dem er eigentlich in den Tod nachfolgen will, für das Leben.
Regisseur und Ensemble muten mit ihrer zweieinhalbstündigen Neuinterpretation von "Frühlings Erwachen" dem jungen Publikum einiges zu. Körperliche und seelische Gewalt, Suizid, Lieblosigkeit, Selbstoptimierungszwang, Leistungsdruck - all das wird auf ernste und zugleich unverkrampfte Weise verhandelt. Birkmeir gelingt eine zeitgemäße Wedekind-Version, die weder einem aufgesetzt-peinlichen Jugendjargon erliegt, noch ein pädagogisches Programm mit Fingerzeig ausrollt. Ein hartes Stück über die harte Zeit zwischen Kindsein und Erwachsensein.
Thomas Rieder
Der Standard – 28.03.2023
Renaissance-Theater: "Frühlings Erwachen" als verlockender Todesflirt
Regisseur Thomas Birkmeir feierte mit seiner Neuauflage von Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" am Freitag im Wiener Renaissance-Theater Premiere
In dem Coming-of-Age-Klassiker Frühlings Erwachen (1891) prangert Frank Wedekind die sexuellen Moralvorstellungen des Wilhelminismus an. In einer Neuinszenierung am Theater der Jugend in Wien erweitert Regisseur Thomas Birkmeir das Thema Sexualität um die Konflikte der Generation Z. Er fokussiert auf den durch Eltern und Medien potenzierten Selbstoptimierungszwang, Drogenkonsum, auf Identitätsfragen sowie Ausländerfeindlichkeit.
Ominöse Mauerschau
Frau Bergmann betritt die gekippte Bühne, um den Tod von Tochter Wendla (Victoria Hauer) zu verkünden. Im Hintergrund werden Schatten auf die graue Wand eines symbolischen Friedhofs projiziert, deren Muster mit jeder Szene optisch variiert. Wendla nach den Vandalen zu benennen geht auf den Wunsch der Mutter zurück, ihre Tochter zu einer "Revoluzzerin" zu formen. Doch die 14-Jährige, die vom Klassenkameraden Melchior Gabor (Curdin Caviezel) schwanger wird, stirbt an einer Geburtskomplikation. Der retrospektive Blick der Mutter in die Ferne vor dem imaginären Grab der Tochter erweckt Wendla als Erinnerung zum Leben, repräsentiert durch eine noch nicht verwelkte Rose (Bühne: Andreas Lungenschmid). Dann wechselt die Rahmen- zur eigentlichen Binnenhandlung und Wendla tritt samt des restlichen Figurenensembles auf.
Polarlicht
Moritz Stiefel (Ludwig Wendelin Weißenberger) zerbricht an den hohen Erwartungen durch Eltern und Schule. Ebenso an der Taktlosigkeit seiner Mitschüler, wenn es um Liebesgossip, Islamophobie oder (Cyber-)Mobbing geht. Auf den pragmatischen Melchior, der ihn zum Drogenkonsum anstiftet, ist er aufgrund dessen guter Noten angewiesen. Der Bühnenboden, der nach jeder Szene die Farbe wechselt, korrespondiert mit Moritz’ Wunsch, sich als Reaktion auf die Gefühlskälte in einem antarktischen Eisblock bei Polarlicht einzuschließen.
Alter Ego, Double, Chaplin
Otto/Ilse ist tagsüber toxischer Prolo, nachts verwandelt er sich in eine divenhafte Blondine. Während Moritz seinen Suizid filmt, wird sein Gesicht live auf die zerfranste Bühnenwand projiziert. Dieses verdoppelt sich als Anzeichen einer Persönlichkeitsspaltung. Später erscheint Moritz Melchior als Wiedergänger auf dem Friedhof. Auf einem Hubpodium von der Unterbühne emporsteigend versucht er ihn von seinem Grab aus mit dem Tod zu verführen. Wären da nicht mehrere Charlie Chaplins, die abseits der Bühne aufkreuzen. Sie überzeugen Melchior, auf der Seite des Lebens zu bleiben. Übrigens: Chaplins Leichnam wurde 1978 gestohlen; zudem nahm der Komiker Gerüchten zufolge an seinem eigenen Doppelgängerwettbewerb teil (dritter Platz).
Mit den Gorillaz lebt sich's besser
Birkmeir bleibt dem Original treu, schauspielerisch ist die Darbietung überzeugend, es gelingt eine Tragikomödie. Die bei Szenenwechseln eingespielten Lieder (vor allem von den Gorillaz) sind nicht forciert. Auch die negativ besetzte Amerikanisierung Europas streift Birkmeir, wenn er die Jungs American Football spielen und die Mädchen als Cheerleader tanzen lässt. Zugunsten der Konflikte der Figuren verzichtet die Inszenierung auf ein üppiges Bühnenbild, nützt dieses aber raffiniert.
Christina Janousek
Online Merker – 28.03.2023
WIEN / Theater der Jugend. FRÜHLINGS ERWACHEN
WIEN / Theater der Jugend. FRÜHLINGS ERWACHEN nach Frank Wedekind von Thomas Birkmeir Premiere: 24. März 2023, besucht wurde die Vorstellung am 27. März 2023
Man hat mit so genannten „Überschreibungen“ so viele schlechte bis verheerende Erfahrungen gemacht, dass man dieser heutzutage leider so reichlich gepflegten Methode der Interpretation skeptisch gegenüber steht. Aber es kann auch gelingen, wie Thomas Birkmeir, der Direktor des Theaters der Jugend, mit seiner Fassung von Wedekinds „Frühlings Erwachen“ beweist.
Da geht es nicht (nur) um krampfhafte Modernisierung, da geht der Bearbeiter doch erkennbar von Wedekinds Stück aus und entwickelt die Probleme einer Jugend, die im Original um die letzte Jahrhundertwende angesiedelt ist, folgerichtig für heute – mit den „aktuellen“ Hinzufügungen, aber doch mit der im Grunde selben Problematik: Wie schwer es junge Leute in der Pubertät haben, und dass nicht alle imstande sind, damit umzugehen…
Dabei reduziert Thomas Birkmeir Teile der Handlung (die Lehrer der Schule, die Eltern von Moritz Stiefel) und konzentriert sich im schnellen Ablauf auf das Wesentliche, nämlich das Leben der drei – in der Theatergeschichte weltberühmt gewordenen – Jugendlichen: Wendla Bergman, Melchior Gabor und vor allem Moritz Stiefel, einer der tragischen „Selbstmörder“ der Literatur. Die Tragödie“ Wendlas, die an den Folgen einer Schwangerschaft stirbt (hier wird nicht klar, dass die Mutter eine Abtreibung veranlasst hat), Melchior, der Kluge, der sich in eine kühle Distanz zu den Menschen und Gefühlen hinein philosophiert (dass er von den Eltern in eine Art „Besserungsanstalt“ geschickt wird, findet hier nicht statt) und am Ende, vor die Wahl zwischen Leben und Tod gestellt, das Leben wählt. Und Moritz Stiefel, dem alles, was man ihm als Zukunft aufzwingen will, so schrecklich sinnlos erscheint, dass er sich erschießt.
Er tut dies in dieser Aufführung vor laufender Kamera, und alle Ingredienzien des heutigen Lebens hat Thomas Birkmeir geradezu massenhaft in das Stück hinein geschaufelt – die Smartphones und die allgegenwärtigen Sozialen Medien, Tattoos und Cheerleader, das Islam-Problem (er lässt eine von Wendlas Freundinnen Muslima sein, die sich heftig darüber beschwert, wie sie behandelt wird) und vor allem die Transgender-Frage. Tritt bei Wedekind ein Model namens Ilse auf, so macht Birkmeir daraus einen Mitschüler, der seine Trans-Existenzen geradezu experimentell austestet, Weiters geht es, auch noch hinein gepfropft, auch um Flüchtlinge (mit kurz angetippter, hinterfragter „Gutmenschen“-Haltung), und man wundert sich direkt, dass der Neu-Autor Birkmeir die Klimakleber ausgelassen hat, wo die Jugendlichen, halb ironisch mit Phrasen jonglierend, doch scheinbar alles diskutieren, was heute „in“ ist…
Das Stück, das bei Wedekind und auch in dieser Fassung weitgehend „realistisch“ verläuft, ist berühmt für seinen irrationalen Schluß: Moritz Stiefel erscheint aus seinem Grab und will Freund Melchior zu sich in den Tod holen – aber dann ist da plötzlich der nicht näher definierte „Vermummte Herr“ (den Wedekind bei der Uraufführung des Stücks selbst gespielt hat), der ihn ins Leben zurück holt…
Thomas Birkmeir arbeitet als sein eigener Regisseur mit einer Bühnenschräge (Bühnenbild: Andreas Lungenschmid), wo sich die jungen Darsteller in heutigen Gewändern (Kostüme: Irmgard Kersting) bewegen. Und sie sind wirklich jung, zwar nicht die rund 15-jährigen Teenager (das Wort hat Wedekind noch nicht gekannt), die sich im Original auf der Bühne bewegen sollen, aber doch glaubhaft junge Menschen, wobei der Welt- und Lebensschmerz, der Moritz durchdringt, von Ludwig Wendelin Weißenberger ganz wunderbar vermittelt wird. Curdin Caviezel ist als Melchior vielleicht cooler, als im Original angelegt, aber glaubhaft und intensiv in allen Aktionen. Wunderschön die junge Wendla der Victoria Hauer, die man zu Beginn in heftigem Streit mit ihrer Mutter erlebt, die sich aber dann als gutes, in die Verzweiflung getriebenes Wesen herausstellt.
Eine Erwachsene (Simone Kabst besonders gut als Wendlas Mutter zwischen Liebe und echt mütterlicher Verzweiflung) und fünf junge Darsteller (Shirina Granmayeh, Claudia Waldherr. Robin Jentys, Jakob Pinter – eindrucksvoll in seiner Verwandlung in „Ilse“- und Haris Ademovic) realisieren alle Rollen in einer rasanten, schonungslosen, unter die Haut gehenden und immer wieder berührenden Inszenierung.
Die gut besuchte Repertoireaufführung sah auch viele Erwachsene im Publikum. Nicht zum ersten Mal bietet das Theater der „Jugend“ einen Abend, den sich kein Theaterfreund, welchen Alters auch immer, entgehen lassen sollte.
onlinemerker.com/wien-theater-der-jugend-fruehlings-erwachen/
Renate Wagner
Bohema – 26.03.2023
Frühlings-Erwachsen-werden
„Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme“ - Zwischen Frühlingsgefühlen und Verzweiflung beweist Wedekinds Tragödie die gleiche Aktualität wie vor über 100 Jahren.
Frühlings Erwachen von Frank Wedekind wurde bei seiner Uraufführung 1906 heftig kritisiert: Die sogenannte „Kindertragödie“ behandelte Themen, über die man nicht sprach und somit wurde auch verboten, diese auf einer Bühne zu behandeln. Regisseur Thomas Birkmeir steht zu den Tabus in seiner Inszenierung am Theater der Jugend und lässt die Kinder und Jugendlichen aus Wedekinds Drama offen über Selbstbefriedigung, Schwangerschaftsabbruch und Suizidgedanken reden.
Die Jugend von heute
Ergänzt werden die bekannten Themen im neuen Frühlings Erwachen durch Diskriminierung durch Rassismus und die Frage nach Geschlechtsidentität. Dafür stellt Birkmeir zwei Charaktere auf die Bühne, die so im Original nicht vorkommen: Daria ist Muslimin und Kopftuchträgerin, die für ihr „Anders-Sein“ nicht akzeptiert wird. Sie erzählt, wie sie auf offener Straße angespuckt wird und sich über nichts beklagen darf, weil sie sonst einfach wieder zurückgehen solle, wo sie hergekommen ist. Und Otto stellt sich später im Stück als Ilse vor. Sie hinterfragt die Wichtigkeit der Geschlechterbezeichnungen und Kategorisierung von „Mann“ und „Frau“.
Die Hauptfiguren Wendla, Moritz und Melchior sind auch auf der Suche nach Antworten. Antworten, die sie von ihren Eltern nicht bekommen. „Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme.“ So spricht Moritz, der sich von seinen Eltern nicht geliebt fühlt, sich selbst als Produkt bezeichnet und unerwidert in Wendla verliebt ist. Nach einem Streit mit seinem besten Freund Melchior entscheidet er sich live von einer Kamera begleitet umzubringen. Wendla möchte von ihrer Mutter verstanden werden, die Mutter möchte sie auf ihre eigene Weise behüten. Da sie auf ungewollter Weise schwanger wurde, möchte sie ihre Tochter vor diesem Schicksal beschützen. Doch Wendla möchte selbst entscheiden, wie sie mit ihrem Körper umgeht.
Instabil und ungerade
Die DarstellerInnen spielen von Anfang bis Ende auf einem schiefen Bühnenboden. Die Instabilität und das Gefühl, dass sie in jedem Moment wie auf einer Rutsche das Gleichgewicht verlieren könnten, zieht sich durch die Aufführung. Die Unsicherheit der Kinder, das Fehlen von Gesprächen auf Augenhöhe mit den Eltern, aber auch Tod und Leben zeichnen sich im simplen, aber sehr passenden Bühnenbild ab.
Die bestehende Relevanz von Wedekinds Frühlings Erwachen in der heutigen Zeit ist offensichtlich: Besonders durch die Corona Pandemie wurden menschliche Beziehung auf die Probe gestellt und die unzähligen Fragen der Heranwachsenden blieben offen. Das von Wedekind kritisierte Schulsystem und der Leistungsdruck weisen heute immer mehr unglückliche Kinder und Jugendliche auf.
Sexuelle Aufklärung, zwar besser als in der Zeit des Originalstückes, bleibt weiterhin fokussiert auf die Biologie und lässt jedoch die emotionalen Aspekte, die für Jugendliche in der Pubertät von Nöten wäre, außen vor.
Die jungen Teenager werden hier von Erwachsenen verkörpert - ein Phänomen, das bei Filmen und Serien oft die Illusion zerstört. Hier aber schaffen es die Schauspieler*innen ihre Kindlichkeit ohne Übertreibung darzustellen.
„Die Poesie des Pessimismus ist die Lebensfreude“
Die Aufführung im Theater der Jugend zeigt alle Aspekte des Erwachsenwerdens und der Pubertät. Dabei wird das nun doch über 100 Jahre alte Stück ergänzt mit dem Zeitgenössischen: besonders im Einfluss von Social Media und dem Internet. Der Rahmen ändert sich aber nicht: Die Fragen, die Ängste, die Unsicherheiten und Problem der Kinder und Jugendliche bleiben gleich. Ein Abend zum Nachdenken und Miterleben des süßlich-schmerzhaften Coming-of-Age für alle ab 13.
Frühlings Erwachen ist bis zum 26. April im Theater der Jugend zu sehen.
https//www.bohema-wien.com/theater/fruehlings-erwachsen-werden
Lili Bana
Wiener Zeitung – 28.03.2023
Liebesverirrungen
Thomas Birkmeir versetzt Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" ins Hier und Jetzt.
Frank Wedekinds Stück "Frühlings Erwachen" geriet bei seiner Uraufführung 1906 zum Skandal: Anhand der Liebesverwirrungen mit tragischem Ausgang - der 15-jährige Moritz begeht Suizid, und die gleichaltrige Wendla stirbt an den Folgen einer illegalen Abtreibung - kritisierte der Autor die bigotten Moralvorstellungen seiner Zeit.
Erste Küsse
Auch mehr als 100 Jahre später, sind Sorgen und Nöte der Pubertät nicht minder drängend, aber Fragen rund um Sexualität sowie Eltern-Kind-Beziehungen haben sich massiv verändert. Intendant Thomas Birkmeir versucht, den Zeitenläufen in seiner Bearbeitung gerecht zu werden (...): Wedekinds Grundstruktur wird beibehalten, aber von Cybermobbing über Transgender bis hin zu einer Familie mit Migrationshintergrund und einer alleinerziehenden Mutter werden in zweieinhalb Stunden eine Reihe an Themen angerissen (...)
Bühnenbildner Andreas Lungenschmid hat eine Bühnenschräge entworfen, die von unten beleuchtet wird. Auf der effektvollen Spielfläche setzt Regisseur Birkmeir die Inszenierung routiniert um - vor allem Viktoria Hauer und Curdin Caviezel gelingen packende Szenen.
Petra Paterno
Materialien
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